Historie: Anatoli Karpov zum 70. Geburtstag

Anatoli Karpov, der 12. Weltmeister der Schachgeschichte, feiert am Pfingstsonntag, den 23. Mai 2021, seinen 70. Geburtstag. Der langjährige Dauerrivale von Garri Kasparov bestritt zwischen 1984 und 1990 nicht weniger als fünf Matches und weit mehr als 100 Partien um die Schachkrone gegen ihn – die legendäre Epoche der K&K-Wettkämpfe war geboren.

Bereits 1975 hatte der in Slatoust im Ural geborene und aus einfachen Verhältnissen stammende Anatoli Karpov kampflos den Weltmeistertitel von Bobby Fischer übernommen – mit immer neuen inakzeptablen Forderungen hatte der exzentrische Amerikaner die FIDE damals schließlich dazu gebracht, den WM-Kampf platzen zu lassen. Über Fischers wahre Beweggründe wird bis heute spekuliert. Karpov verteidigte seinen Titel zweimal gegen Viktor Korchnoi (1978 und 1981), ehe ihm Kasparov 1985 den Titel entriss.

Es fällt schwer, unter Karpovs zahllosen Meisterwerken eine einzelne Begegnung herauszusuchen, aber seine mutmaßlich gelungenste Partie schuf der Exweltmeister gegen den bulgarischen Großmeister Veselin Topalov beim Traditionsturnier im spanischen Linares 1994. Karpov spielte damals schlichtweg das Turnier seines Lebens und düpierte die versammelte Weltelite mit einem astronomischen Endergebnis von 11 Punkten aus 13 Partien – Alexej Shirov und Garri Kasparov teilten sich die nächsten Ränge mit 8,5 Punkten. Karpovs damalige ELO-Performance ist bis heute (!) von niemandem übertroffen worden. Die Krönung dieser Sternstunde erlebte die Schachwelt in Runde 4. Übereinstimmend sprechen praktisch alle Experten heute von Karpovs Unsterblicher Partie, wenn sie auf diese Partie Bezug nehmen. Kein Wunder: Karpov bot insgesamt dreimal innerhalb einer Partie einen Turm zum Opfer an und gewann, obwohl er zwischenzeitlich mit zwei Qualitäten weniger spielte! Hier ist dieses Meisterwerk:

Weiß: Anatoli Karpov (RUS)           ELO: 2740
Schwarz: Veselin Topalov (BUL)    ELO: 2640
Linares, 27.2.1994
Runde 4

1.    d2-d4       Sg8-f6
2.    c2-c4        c7-c5
3.    Sg1-f3! 

Das Ausrufezeichen hinter dem Zug steht in diesem Fall natürlich nicht für die objektive Stärke des Zuges, sondern für seine gute psychologische Wahl. Topalov gilt als ausgewiesener Kenner des Wolga-Gambits und von Benoni-Strukturen, so dass Karpov diese Stellungstypen lieber vermeidet und die Partie in ruhigeres Fahrwasser lenkt. Durch Zugumstellung entsteht letzten Endes eine Variante der Englischen Eröffnung. Topalov sagte nach der Partie übrigens selbst, dass er Karpovs Wahl als unangenehm empfunden habe.

3.    …              c5xd4
4.    Sf3xd4     e7-e6
5.    g2-g3       Sb8-c6
6.    Lf1-g2      Lf8-c5
7.    Sd4-b3     Lc5-e7
8.    Sb1-c3     0-0
9.    0-0           d7-d6
10.  Lc1-f4      Sf6-h5?!

Nach ruhiger Entwicklung in der Eröffnung muss sich Schwarz für eine Aufstellung seiner Figuren entscheiden und wählt einen Zug, der damals als topaktuell galt. Nach Karpovs überraschender Neuerung im nächsten Zug wurde aber die Bewertung dieser einst beliebten Variante vollkommen auf den Kopf gestellt und nahezu vollständig verworfen.

11.  e2-e3!      Sh5xf4
12.  e3xf4       Lc8-d7
13.  Dd1-d2    Dd8-b8

Nun erkennt man die Vorteile der unerwarteten Preisgabe des Läuferpaars. Im Gegenzug erhält Karpov starkes Druckspiel auf den halboffenen zentralen Linien und kann Schwarz an einer harmonischen Entwicklung seiner Figuren hindern. Die passive Aufstellung der schwarzen Figuren bestätigt diese Einschätzung voll und ganz. Das Feld c7 sieht natürlicher aus für die Dame, aber dort ist sie angesichts potentieller Belästigungen durch den weißen Springer oder einem Turm, der schon bald auf der c-Linie aufkreuzen wird, nicht sicherer.

14.  Tf1-e1      g7-g6
15.  h2-h4       a7-a6
16.  h4-h5       b7-b5
17.  h5xg6      h7xg6
18.  Sb3-c5!    d6xc5?

Karpov baut systematisch den Vorteil aus. Topalovs Zug g7-g6 verhinderte zwar das drohende f4-f5, aber es schwächte auch den Königsflügel. Durch den Vorstoß des h-Bauern wurde die schwarze Königsfestung weiter ramponiert, was Karpov umgehend ausnutzt. Mit dem Textzug verschlimmert Topalov seine Lage weiter, denn das von ihm ersonnene Verteidigungsrezept geht nicht auf. Ob erfreulich oder nicht, der Zug 18… Db8-c7 war mehr oder weniger erzwungen, auch wenn Weiß nach dem Tausch auf d7 klar besser steht.

19.  Dd2xd7    Tf8-c8

Nun ist die erste berühmte Stellung dieser Partie erreicht. Mit dem naheliegenden, aber letztlich schwachen 19. Lg2xc6? würde Weiß nach 19… Ta8-a7 nichts erreichen, da er die Figur zurückgeben müsste und seinen kostbaren Fianchettoläufer hergegeben hat. Karpovs Fortsetzung ist viel stärker.

20.  Te1xe6!!   Ta8-a7

Die Annahme des Turmopfers hätte Weiß ebenfalls zwei Bauern und eine Figur für den Turm eingebracht. Das zweite Opferangebot in Folge muss Topalov aber annehmen.

21.  Te6xg6+!  f7xg6
22.  Dd7-e6+   Kg8-g7
23.  Lg2xc6      Tc8-d8

Zu langsam wäre 23… b5xc4? wegen 24. Lc6-e4 Le7-f6 25. De6-g4 mit raschem Zusammenbruch. Der mit Verteidigungsaufgaben beschäftigte Nachziehende kann nur tatenlos Zuschauen, wie sein Kontrahent fleißig Bauern einsammelt.

24.  c4xb5        Le7-f6
25.  Sc3-e4!     Lf6-d4

25… Lf6xb2? 26. Ta1-b1 Lb2-d4 27. b5-b6 Ta7-f7 28. Se4-g5 kann sich Schwarz nicht erlauben.

26.  b5xa6!      Db8-b6
27.  Ta1-d1!!   Db6xa6

Jetzt erhellt Karpovs Pointe: der schwarzfeldrige Läufer ist die Figur, die die schwarze Stellung noch zusammenhält – um den Preis eines weiteren Opfers (des insgesamt dritten Turmopfers in dieser Partie!) wird der letzte Verteidiger vernichtet, wonach die weißen Figuren über den schutzlosen schwarzen König herfallen. Die schwarzen Schwerfiguren sind dabei völlig unkoordiniert und fernab vom Geschehen. Das Ende ist nah.

28.  Td1xd4!   Td8xd4
29.  De6-f6+   Kg7-g8
30.  Df6xg6+  Kg8-f8
31.  Dg6-e8+  Kf8-g7
32.  De8-e5+  Kg7-g8
33.  Se4-f6+   Kg8-f7
34.  Lc6-e8+   Kg7-f8
35.  De5xc5+  Da6-d6

Der hoffnungslos exponierte schwarze König ist zum Spielball der weißen Figuren geworden, die ihn nach Belieben übers Brett scheuen konnten. Kein Wunder, dass Schwarz zwingend Material einbüßen muss.

36.  Dc5xa7     Dd6xf6
37.
  Le8-h5      Td4-d2
38.  b2-b3        Td2-b2
39.  Kg1-g2

Das Matt konnte Topalov zwar verhindern, aber Läufer plus fünf Bauern sind eine beeindruckende Übermacht gegen einen Turm. Der bulgarische Großmeister stellte hier daher den Widerstand ein.

1 – 0

S dnem rozhdeniya, Anatoli Karpov!
(Alles Gute zum Geburtstag, Anatoli Karpov!)

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