Verpasste Chancen (26)

Nie wieder war die Atmosphäre bei einem Duell um die schachliche Krone des Weltmeisters so aufgeheizt wie beim Match zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky 1972 in Reykjavik. In Zeiten des Kalten Krieges war das Aufeinandertreffen eines US-Amerikaners mit einem Sowjet eine Sensation und eine Zerreißprobe zugleich.

Das aktuelle Partiefragment stammt zwar nicht von diesem WM-Match, aber von einem ähnlich intensiven Duell. Als Anatoli Karpov und Viktor Korchnoi 1978 auf den Philippinen um die WM-Krone spielten, waren die Vorzeichen nicht viel besser: auf der einen Seite der von der sowjetischen Regierung hofierte und linientreue Karpov, auf der anderen der abtrünnige Dissident Korchnoi, der zwei Jahre zuvor die Repressionen der Diktatur satt hatte, seinem Heimatland den Rücken kehrte und fortan unter Schweizer Flagge spielte.

Heute weiß man, dass der KGB damals nicht weniger als 18 Agenten entsandte, um den Sieg Karpovs sicherzustellen. Unterstellungen rund um Parapsychologen im Publikum oder angeblich versteckte Botschaften in Joghurtbechern zeigten beispielhaft auf, wie sehr beide Lager einander misstrauten. Die Nebengeräusche stellten für alle Beteiligten eine erhebliche Bürde dar, die nicht ohne Auswirkungen auf die Qualität des Spiels blieb. Das Match begann mit acht Remisen, wobei das allgemeine Niveau als kläglich empfunden wurde. Den Tiefpunkt erleben wir hier in der 5. Partie des Matches.

 

Korchnoi – Karpov, WM-Match, 5. Partie, Baguio City 1978
Schwarz am Zug

Karpov steht im Schach und hätte in dieser Stellung einfach mit 1… Kf7-f8 fortsetzen sollen, wonach sich eine ausgeglichene Position auf dem Brett befunden hätte. Stattdessen spielte er das halsbrecherische 1… Kf7-e6??, doch war das noch nicht der letzte schlimme Fehler in dieser Partie. Korchnoi setzte nach 2. Dg3-h3+ Ke6-d5 mit dem schlimmen Patzer 3. Lg6-e4+?? fort, worauf die Partie schließlich mit gleich zwei Rekorden endete: zum einen ist sie die einzige WM-Partie überhaupt, die mit einem Patt endete, und zum zweiten wurde sie mit 124 gespielten Zügen auch die längste WM-Partie bisher. Allzu gerne hätte Korchnoi natürlich auf diese zweifelhaften Rekorde verzichtet und stattdessen einen eminent wichtigen Sieg eingefahren. Mit einer anderen Fortsetzung wäre dies sehr leicht zu erreichen gewesen …

============================ LÖSUNG ============================

Mit dem ziemlich naheliegenden 3. Lg6-f7+! wäre das Matt zu erzwingen gewesen: nach 3… Kd5-c6
4. Dh3-e6+
gibt es kein Entrinnen. Auf 4… Kc6-b7 (oder 4… Kc6-b5 5. De6-c4+ Kb5-a4 6. Dc4-a6# mit demselben Ergebnis) ist nun 5. De6xe7+ Kb7-a6 6. Lf7-c4+ b6-b5 7. De7-d6+ Ka6-b7 8. Dd6-b8+ Kb7-a6 9. Lc4xb5# mit zwingendem Matt möglich. Selbst wenn kein Matt möglich wäre, so würde Weiß doch zumindest zwingend eine Figur und die Partie so oder so gewinnen. Dass Korchnoi diese denkbar einfache Fortsetzung ausließ, ist im Grunde genommen nur mit der kolossalen Anspannung plausibel zu erklären.

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